Rießiger Fehler

28.03.2009
Von Wolfgang Blum
Sie rechnen laut Adam Riese? Leider falsch; der vor 450 Jahren gestorbene Rechenkünstler hieß Ries. Gigantisch sind seine Verdienste trotzdem.
2009 minus 1559 – das macht nach Adam Riese 450. Vor so vielen Jahren, der genaue Tag ist unbekannt, starb jener berühmt gewordene Rechenmeister, der eigentlich Adam Ries hieß. Sein Ruf hat einen guten Grund: „Bis jetzt konnte Adam Ries so gut wie kein Fehler in seinen Schriften nachgewiesen werden“, sagt Wolfgang Lorenz, der seit Jahren über den Zahlenzauberer forscht. Nur in die Überlieferung seines Namens schlich sich ein Lapsus ein. Der Vater aller Mathematiklehrer: Adam Ries starb vor 450 Jahren.
In sämtlichen Quellen stehe Ries, berichtet Lorenz. Ob „Riese“ von der damals üblichen Deklination des Namens herrühre oder Respekt vor dem Rechenriesen ausdrücken soll, sei ungewiss.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts litten die Bauern in Deutschland unter der Fron, die sie dem Adel erbringen mussten. Die wenigsten Menschen konnten lesen und schreiben. Das Land war zersplittert in unzählige Fürstentümer und Grafschaften, die meist eigene Maße und Gewichte kannten. In den Städten Süddeutschlands entwickelte sich dennoch die Wirtschaft. Es entstand ein neuer Beruf: Rechenmeister waren im Handel, Behörden und bei Adeligen gefragt. 1518 ließ sich der im fränkischen Staffelstein geborene Adam Ries, der vermutlich nie eine Hochschule besuchte, in Erfurt als Rechenmeister nieder. Dort schrieb er sein erstes Buch über die „Rechnung auff der 2 linihen“, nicht wie damals für Gelehrte üblich auf Latein, sondern auf Deutsch. Der Titel bezog sich auf das Hantieren mit Rechenpfennigen, die ähnlich wie die Kugeln eines Abakuses auf einem linierten Brett hin- und hergeschoben wurden. Der unterste Strich stand dabei für die Einer, der nächst höhere für die Zehner. Dann kamen die Hunderter und Tausender. Pfennige dazwischen symbolisierten Fünfer, Fünfziger und Fünfhunderter. Pfennige zu verschieben war damals eine zweckmäßige Rechenmethode. Einerseits war Papier ein teures Luxusgut. Andererseits benutzten die meisten Bürger – so weit sie nicht sowieso Analphabeten waren – römische Ziffern, die sich nicht eignen zum schriftlichen Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren. Schon die einfache Aufgabe XLVII mal XXXIII (47 mal 33) ist in dieser Schreibweise nicht zu bewältigen. Das Ergebnis, MDLI (1551), lässt sich nicht aus den in den Faktoren enthaltenen Zeichen L, X, V und I ableiten. Der Handel zwischen den Regionen nahm außerdem rapide zu, und überall galten andere Maße und Währungen. So maß eine Elle in Frankfurt rund 54 Zentimeter, in Leipzig 56 und in Nürnberg 66. Zudem waren viele verschiedene Münzen in Umlauf: Mark, Gold- und Silbergulden, Taler und Kreuzer.
„Rechenkunst mit Lust und Fröhlichkeit“
Ein fortschrittliches Zahlensystem war bereits aus Indien über arabische Gelehrte nach Europa gekommen. Allerdings hatte es sich bislang nicht durchsetzen können. Die Kirche stand den neuen Ziffern skeptisch gegenüber, da sie aus dem Islam kamen. Zuweilen wurden sie gar als Teufelswerk bezeichnet. Aber auch die Finanzwelt sträubte sich. Für die römischen Zahlen hatte sie Methoden erfunden, um Fälschungen in den Abrechnungen zu verhindern. Bei den indisch-arabischen Zahlen brauchte ein Betrüger dagegen nur ein paar Nullen anzuhängen. Überhaupt schieden sich an der Null die Geister. Vielen war sie als Symbol für das Nichts suspekt. Rechenmeister Ries bereiteten die arabischen Zahlen keine Probleme. Er verstand den Vorteil des Stellenwertsystems, bei dem der Wert einer Ziffer von ihrer Stelle abhängt. Dadurch lassen sich Rechnungen mit größeren Zahlen auf solche mit einer Handvoll Ziffern zurückführen. 47 mit 33 zu multiplizieren schafft so jeder Drittklässler. In seiner „Rechenung auff der linihen und federn…“, die ebenfalls auf Deutsch erschien, erklärte Ries beide Rechenarten, jene mit dem Linienbrett und die moderne Version mit Stift und Papier. Gedacht war dieses erste Mathebuch für Lehrlinge der kaufmännischen und 3 handwerklichen Berufe. Aus deren Alltag stammen die vielen Übungsaufgaben in der Rechenfibel.
Wie weit Ries seiner Zeit voraus war, belegt ein Zitat des Meisters, in dem er hofft, dass „ein jeder die Rechenkunst mit Lust und Fröhlichkeit begreifen möge“. Von dieser Einstellung könnte noch heute so mancher Mathematik-Lehrer profitieren.
Wer seinerzeit das didaktisch hervorragende Werk durchgearbeitet hatte, erwarb das Zeug zum großen Rechenkünstler. Aus heutiger Sicht mag man darüber lächeln. Doch zu Beginn der Neuzeit beherrschte kaum jemand die Grundrechenarten. Nur eine einzige Universität in Deutschland pflegte die Kunst des Dividierens. Und Ries begnügte sich nicht mit Rechenverfahren, er bemühte sich stets darum, das Ergebnis auf Fehler zu prüfen, zum Beispiel mit der so genannten Neunerprobe.
Bei jeder Multiplikation werden die beiden Reste, die bleiben, wenn man die Faktoren durch 9 teilt, miteinander malgenommen. Der Neunerrest dieses Produkts muss dann mit dem Neunerrest des Resultates der Multiplikation übereinstimmen. Das Geniale dabei: Der Neunerrest lässt sich auf einfache Weise aus der Quersumme einer Zahl bestimmen. 986 hat beispielsweise die Quersumme 9+8+6=23, was wiederum die Quersumme 2+3=5 hat. Folglich ist der Neunerrest von 986 gleich 5.
Das zweite Buch des Adam Ries erwies sich als überaus erfolgreich. Bis zu seinem Tod wurde es mehr als hundertmal aufgelegt. Zu Reichtum gelangte sein Autor dadurch allerdings nicht. Denn mit dem Urheberschutz nahm es im 16. Jahrhundert niemand so genau.
Groschenbrot und Pfennigsemmel
Um sein Einkommen zu sichern, siedelte Ries in die damals zweitgrößte Stadt Sachsens, nach Annaberg, um. Diese lebte vom Silber- und Erzbergbau, und der Rechenmeister verdiente fortan seinen Lohn als Rezessschreiber. In dieser Funktion war er zuständig für die Abrechnungen der einzelnen Gruben. Wie viel Mittel wurden eingesetzt, welcher Lohn bezahlt, wie groß war der Ertrag an Erz? Viele Gruben machten Verlust. Stießen die Bergleute aber auf eine Ader, konnte der Gewinn explodieren.
Ries Rechnungen, die er übrigens einem Dekret der fürstlichen Bergordnung zufolge in den rechenfeindlichen römischen Zahlen halten musste, gewährleisteten gerechte Ausgleichszahlungen. Später prüfte der Rechenmeister zudem als Gegenschreiber die Bilanzen der Gruben und sorgte als sogenannter Zehnter dafür, dass der Landesherr den zehnten Teil des Gewinns einsackte.
Im Auftrag der Stadt Annaberg verfasste Ries eine Brotordnung, damit – wie er selbst im Vorwort schreibt – „der arme gemeine man ym Brotkauff nicht übersetzt würde“. Es handelte sich dabei um eine Sammlung von Tabellen. Brot hatte damals Festpreise.
So gab es Groschenbrot, das doppelt so große Zweigroschenbrot und Pfennigsemmeln. Um den Schwankungen der Getreidepreise zu entsprechen, formten die Bäcker verschieden große Laibe. Sie buken die heute sprichwörtlichen kleineren Brötchen. Um wie viel leichter diese sein durften, regelte die Brotordnung. Nachdem das Tafelwerk in Annaberg die Bevölkerung erfolgreich vor Betrug schützte, erstellte Ries ähnliche Werke für Joachimsthal, Zwickau, Hof und Leipzig.
Überdies kannte sich Ries in der zeitgenössischen abstrakten Mathematik bestens aus. Das belegt sein Algebra-Lehrbuch „Coß“, das erst 1992 anlässlich seines 500. Geburtstags gedruckt wurde. Der Autor hatte offenbar Zweifel, das Werk gewinnbringend verkaufen zu können. Mit „Coß“ bezeichneten deutsche Gelehrte in der beginnende Frühzeit die Unbekannte, also das, wofür in der heutigen Algebra meist ein „x“ steht. Der Begriff leitete sich vom italienischen cosa (deutsch: Ding, Sache) ab. Die „Coß“ des Annaberger Rechenmeisters beinhaltet so ziemlich alles, was Gymnasiasten noch heute an Algebra lernen.
Gleichungen in Versen
Im süddeutschen Raum gab es zu Ries Zeiten einige Cossisten, die neu geschaffene Symbole einführten, wie das Plus-, das Gleichheits- oder das Wurzelzeichen. Zuvor wurden Gleichungen und Lösungsverfahren immer mit Worten beschrieben, manchmal sogar in Versen.
Nur eines hat der didaktisch brilliante Adam Ries nicht entwickelt: neue mathematische Verfahren oder Beweise. „Ries Hauptanliegen war es, dem einfachen Mann zu helfen“, sagt Wolfgang Lorenz. So ging er als der Urahn der Mathematik-Lehrer in die Geschichte ein. Der Erfolg zeigte sich sogar bei den eigenen Kindern. Vier seiner fünf Söhne nahmen den gleichen Beruf auf.
Bis heute hat der Adam-Ries-Bund 23000 direkte Nachkommen des Rechenmeisters dokumentiert. Lorenz erzählt stolz, zur 13. Generation zu gehören. Wie es sich für einen Ries-Nachfahren gehört, ist er emeritierter Professor – allerdings nicht für Mathematik, sondern für Soziolinguistik.
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Quelle: (SZ vom 28.03.2009/beu)